Psychisch gesund durch die Quarantänezeit
Sorgen um die Zukunft, eingesperrt zu Hause, getrennt von Freunden und Kolleginnen, zerrissen zwischen Homeoffice, Homeschooling und Haushalt. Überfordert mit Multitasking und Informationsflut oder einsam und gelangweilt: Die Corona-Quarantäne stellt uns alle vor große Herausforderungen. Gerade für Menschen, die psychisch bereits belastet sind oder sich in einer depressiven Abwärtsspirale befinden, stellen Einsamkeit, ein Mangel an Struktur und Inaktivität, aber auch Überforderungsgefühle besondere Risiken dar.
In unserer Arbeit als Psychotherapeuten gehen wir von fünf wichtigen psychischen Bedürfnissen aus, die es zu erfüllen gilt, um zufrieden und psychisch stabil zu sein: Bindung, Kompetenz, Selbstbestimmung, Sinn und Lebensfreude. Die Einschränkungen durch die Corona-Krise stellen einen Angriff auf alle dieser wichtigen Lebensbereiche dar – es ist daher nicht überraschend, dass die aktuellen Bedingungen großen psychischen Stress auslösen.
Es kann helfen, bewusst auf diese fünf Bedürfnisse zu achten und zu prüfen: Welche Bereiche sind trotz der widrigen Umstände ganz gut erfüllt? Und in welchen Bereichen besteht ein Mangel? Dann gilt es, bewusst gegenzusteuern und mit Phantasie und Kreativität Möglichkeiten zu entdecken, auch in der Krise Erfahrungen von Bindung, Kompetenz, Selbstbestimmung, Sinn und Lebensfreude zu ermöglichen.
Bindung
Menschen brauchen andere Menschen, um zu überleben. Das war schon immer so, und deshalb ist es nicht verwunderlich, dass ein Bedürfnis nach Liebe, Freundschaft und Verbundenheit tief in uns eingeschrieben ist. Im Moment dürfen wir aber unsere Freunde nicht treffen, Großeltern dürfen ihre Enkel nicht sehen, wir begegnen unseren Arbeitskollegen selten oder gar nicht und selbst oberflächliche Kontakte auf der Straße und im Supermarkt werden knapp. Bei einem Mangel an Bindung droht ein Gefühl von Einsamkeit.
Es ist daher wichtig, zu überlegen: Wie kann ich auch unter diesen schwierigen Umständen Kontakt halten zu den Lieben, zu Freunden und Kollegen? Telefonische Kontakte und Videokonferenzen können helfen, der Einsamkeit vorzubeugen – auch wenn sie kein vollständiger Ersatz sein können für echte Nähe und Begegnungen. „Besser als nichts“ muss hier das Gebot der Stunde sein. Bemühen Sie sich aktiv, Ihre Kontakte zu pflegen. Manchmal liegt das Gute auch ganz nah: Viele Familien rücken im Moment näher zusammen, weil Kindergarten- und Schulkinder zu Hause betreut werden müssen. Auch die älteren Kinder verbringen die Tage zu Hause, weil sie von ihren sonstigen Aktivitäten abgeschnitten sind. Hier steckt neben viel Anstrengung auch viel Potential für schöne Erfahrungen von Nähe und Verbundenheit. Viele Menschen, die sich sonst wünschen, mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, sind jetzt sogar dazu gezwungen. Wenn die Umstände es zulassen, gestalten Sie das Leben zu Hause so, dass Sie die gemeinsame Zeit, das gemeinsame Einigeln mit Nähe und Gemütlichkeit genießen können.
Zugehörigkeit kann man auch erleben, wenn man sich als Teil eines größeren Ganzen versteht – und selten war die ganze Menschheit in allen Ländern gleichzeitig so offensichtlich dem gleichen Schicksal ausgesetzt wie jetzt. Wir sitzen alle im selben Boot, und wir haben die Pest an Bord. Nicht nur Sie sind aktuell von Einschränkungen und Sorgen betroffen – Ihre Freunde, Nachbarn, Kolleginnen und alle Menschen, die Sie auf der Straße sehen, sind es auch. Sie sind nicht allein.
Forschungsergebnisse zeigen, dass wir auch ganz alleine Bindung erleben können: Wenn wir uns freundschaftlich selbst begegnen, uns nett und fürsorglich behandeln, wie wir einen guten Freund behandeln würden, geschehen im Gehirn ähnliche Prozesse, als wenn wir einem anderen Menschen begegnen. Eine freundliche, fürsorgliche Haltung zu sich selbst kann also sogar der Einsamkeit einen Teil ihres Stachels nehmen.
Kompetenz
Menschen fühlen sich gut, wenn sie ihre Fähigkeiten anwenden und verbessern können, wenn sie Erfolge erreichen und dafür Anerkennung von anderen bekommen. Es ist deshalb gut, sich auch unter den aktuellen Einschränkungen kleine Projekte zu suchen, an denen Sie weiter arbeiten können und am Ende stolz auf das Ergebnis sein können. Flexibilität ist aktuell ganz wichtig – vielleicht können Sie im Moment keine beruflichen Erfolge verzeichnen und vielleicht sind Ihre sportlichen Aktivitäten eingeschränkt. Vielleicht können Sie jetzt auf ganz andere Bereiche ausweichen – und sich erfolgreich und selbstwirksam fühlen, wenn Sie ein schwieriges Lied auf der Gitarre lernen, endlich das wackelige Bücherregal reparieren, den Keller aufräumen oder mit den Kindern Osterdeko basteln. Nehmen Sie sich aber auch nicht zu viel vor – setzen Sie sich realistische, erreichbare Ziele.
Während es manchen Menschen aktuell schwer fällt, Projekte für die freie Zeit zu finden, sind andere durch die veränderten Umstände schwer gefordert und kämpfen eher gegen Überforderung als gegen Langeweile. Überforderung steht genau wie Unterforderung der Erfahrung von Kompetenz und Erfolg entgegen. Es ist aktuell ganz wichtig, nur realistische Ansprüche an sich zu stellen und die Erschwernisse durch die aktuellen Einschränkungen anzuerkennen: Sie können nicht so viel schaffen wie sonst, wenn Sie im Homeoffice gleichzeitig noch auf die Kinder aufpassen und für die älteren Nachbarn mit einkaufen gehen. Es ist wichtig sich klarzumachen, welche Schwierigkeiten man aktuell schon im Alltag bewältigen muss – damit man dann auch darauf stolz sein kann. Wenn Sie sich am Ende des Tages fragen, wo die Zeit geblieben ist und Sie den Eindruck haben, Sie hätten gar nichts erreicht, kann es helfen, für ein paar Tage jede Aufgabe, die Sie bewältigt haben, auf eine „Geschafft-Liste“ zu notieren.
Wichtig ist in jedem Fall, dass Ihr Bedürfnis nach Kompetenz, Leistung und Erfolg in Balance zu Ihren anderen Bedürfnissen steht – und Sie nicht die Chance auf Bindungserfahrungen und Lebensfreude dadurch verlieren, dass Sie ununterbrochen und auch unter schwierigsten Bedingungen gute Leistungen von sich verlangen.
Selbstbestimmung
Menschen streben nach Freiheit und dem Gefühl, das eigene Leben in der Hand zu haben – statt ein Spielball der Umstände zu sein oder nach fremden Pfeifen zu tanzen. Die aktuellen Umstände stellen einen schweren Angriff auf unsere Selbstbestimmung dar. Es gibt vieles, das wir nicht dürfen, unsere Freiheit wird in vielfältiger Weise eingeschränkt. Hier lauern zwei Risiken: auf der einen Seite das Gefühl von Hilflosigkeit und Resignation – auf der anderen Seite Wut auf die Einschränkungen und die Regelsetzer „da oben“, Trotz und Rebellion bis hin zu Corona-Partys, um die eigene Freiheit wiederherzustellen.
Wie kann man sich im Shutdown noch selbstbestimmt fühlen? Es hilft, wenn man sich mit den aktuellen Maßnahmen innerlich einverstanden erklären kann. Die Maßnahmen sollen Ihre Gesundheit und die Ihrer Mitmenschen schützen. Wenn Sie für sich beschließen können, dass Ihnen dieses Ziel auch am Herzen liegt und dass Sie den Nutzen der Maßnahmen erkennen, dann sind die Einschränkungen in Ihrem Sinne und widersprechen der Selbstbestimmung damit weniger, als wenn Sie sie für Humbug halten und in innerem Protest leben. Neben dieser inneren Haltung zu den Einschränkungen gilt es, die Bereiche selbstbestimmt zu gestalten, die tatsächlich noch in Ihrer Hand liegen. Richten Sie sich Ihr Leben unter Coronabedingungen so gut es geht nach Ihrem eigenen Willen ein. Legen Sie sich eine Tagesstruktur zurecht, die Sie so frei bestimmen, wie es möglich ist. Verbringen Sie Ihre Zeit soweit wie möglich mit den Dingen, die Ihnen wichtig sind. Vertreten und verfolgen Sie soweit wie möglich die Werte, die Ihnen am Herzen liegen – das Leben nach den eigenen Werten auszurichten, stellt einen zentralen Teil der Selbstbestimmung dar.
Zur Selbstbestimmung gehört es auch, den Umgang mit Schreckensmeldungen selbst zu gestalten. Es ist gut, informiert zu sein, keine Frage, aber wie immer macht auch bei Nachrichten die Dosis das Gift. Manche Menschen erleben umso mehr Kontrolle, je besser sie informiert sind. Wenn Sie sich hingegen hilflos, erschlagen und überschwemmt fühlen von Horrormeldungen, dann probieren Sie mal eine Nachrichtendiät: Lesen Sie nur einmal am Tag oder morgens und abends – aber nicht direkt vor dem Schlafengehen – die aktuellen Coronameldungen. Sie werden nichts Wichtiges verpassen, es nur ggf. etwas später erfahren. Probieren Sie aus, womit es Ihnen besser geht. Halten Sie sich auch an die seriösen Medien, um allzu reißerischen Darstellungen oder auch einfach Fehlinformationen zu entgehen.
Sinn
So lange es Menschen gibt, suchen sie nach dem Sinn des Lebens. Eine allgemeingültige Antwort hat darauf noch niemand gefunden. Trotzdem tut es Menschen gut, Ereignisse als Teil eines größeren Zusammenhangs zu verstehen, statt als eine chaotische Abfolge von Einzelereignissen. Das gilt im größten Maßstab – für „das Leben, das Universum und den ganzen Rest“ – es gilt aber auch für kleinere Zeitabschnitte. Wir müssen dafür der Coronakrise keinen höheren Sinn unterstellen, das wäre sicher auch für viele Menschen zynisch angesichts des großen Leids und der vielen Opfer.
Menschen können ein Gefühl von Sinnerfüllung auch dann empfinden, wenn sie keine letzte Antwort geben können. Dazu hilft es, sich über kurz-, mittel- und langfristige Ziele bewusst zu werden, damit man sich die Frage „Wozu mache ich das gerade?“ beantworten kann. Es hilft deshalb, auch unter den aktuellen Umständen wichtige Ziele und Projekte weiter zu verfolgen – soweit es die Umstände zulassen.
Für das Gefühl von Sinnerfüllung ist es auch hilfreich, Ereignissen eine Bedeutung zu verleihen. Schon jetzt haben wir durch das Leben in der Krise viel darüber gelernt, wie unsere Gesellschaft funktioniert und wie flexibel, vernünftig und solidarisch Menschen sich verhalten, wenn die Umstände es verlangen. Möglicherweise wird die Krise nicht nur schädliche, sondern auch hilfreiche Spuren hinterlassen – vielleicht lehrt sie uns, wertzuschätzen, was wir haben; vielleicht lehrt sie uns Anteilnahme mit Menschen in Not; vielleicht lehrt sie uns, klarer Prioritäten zu setzen und einen besseren Blick dafür zu bekommen, was uns wirklich wichtig ist.
Die Forschung zeigt, dass die meisten Menschen ein Gefühl von Sinnerfüllung dann erleben, wenn sie etwas unternehmen, das anderen zugute kommt und sich am besten auch noch über den eigenen Tod hinaus auswirken wird. Ganz pragmatisch heißt das: Wenn Sie sich mehr Sinnempfinden wünschen, probieren Sie als erstes, etwas Gutes für andere Menschen zu tun. Dazu kann jede und jeder aktuell prüfen, wie man die eigenen Fähigkeiten hilfreich einsetzen kann. Gelegenheiten gibt es genug – vom Einkaufen für die Nachbarn über das Nähen von Masken bis zur Hilfe bei der Ernte. Tatsächlich scheint man aktuell sogar schon zu helfen, wenn man sich aus der Öffentlichkeit fernhält – so einfach war es noch nie, etwas Gutes zu tun.
Lebensfreude
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein und auch nicht einzig zu höheren Zielen. Spaß, Genuss, Lust und Freude sind für unser psychisches Glück ebenso wichtig wie die anderen Bedürfnisse. Auch hier sind unsere Möglichkeiten aktuell schwer eingeschränkt: Kinos, Restaurants und Spielplätze sind geschlossen.
Suchen Sie deshalb nach Möglichkeiten, auch in den eigenen vier Wänden Spaß zu haben, und vergessen Sie dieses Bedürfnis nicht unter der Last all der anderen Dinge, die aktuell zu erledigen sind. Möglicherweise haben Sie aktuell viel mehr Zeit und Leerlauf als sonst – vielleicht ist aber auch umgekehrt, weil Sie mehr arbeiten als sonst und zusätzlich Kinder zu Hause betreuen müssen. In beiden Fällen – Langeweile oder Überforderung – gilt es, Dinge zu finden, die Ihnen Freude machen, und denen auch eine angemessene Wichtigkeit einzuräumen. Kochen, Spielen, Computerspielen, Filme und Serien ansehen, Musik machen, kreativ sein, Sex haben – das alles lässt sich auch zu Hause, allein oder gemeinsam, bewerkstelligen.
Balance und Gelassenheit
Wir alle müssen in unserem Alltag viele Bälle gleichzeitig in der Luft halten. Meist muss das auf eine große Kompromisswirtschaft hinauslaufen: Wir können nicht Kindererziehung, Romantik, Karriere, Sport, Kreativität und gesellschaftliches Engagement gleichzeitig zur Perfektion bringen. Das gleiche gilt für das Erfüllen der psychischen Bedürfnisse: Manchmal stehen sie miteinander im Widerspruch oder graben sich gegenseitig das Wasser ab – denn während ich Erfolge im Beruf verfolge, kann ich mich nicht so gut um meine Kinder kümmern, wie ich es eigentlich möchte, und umgekehrt.
Das Ziel muss darin bestehen, alle Bedürfnisse im Mittel ganz gut zu erfüllen und einem langanhaltenden Mangel in einem Bereich entgegenzuwirken. Versuchen Sie, sich nach ihren aktuellen Bedürfnissen zu richten: Wenn Sie Ruhe brauchen, gönnen Sie sich Ruhe; wenn Sie aber einsam sind, telefonieren Sie. Wenn Sie sich langweilen, beginnen Sie ein neues Projekt, wenn Sie sich aber erschöpft und überfordert fühlen, dann genießen Sie, dass viele Verpflichtungen zur Zeit wegfallen und ruhen Sie sich aus. Die Coronakrise gilt es vor allem gesund zu überstehen – körperlich und geistig gesund. Es ist nicht nötig, auch noch diesen Krisenzustand zu optimieren.
Die Sonnenseiten
Neben allem Schrecken und allen Sorgen, die die Coronakrise bringt, ist es auch erlaubt und gesund, die positiven Seiten zuzulassen und zu genießen. So berichtet eine Patientin, dass sie Quarantäne und Berufsverbot wie eine Kur erlebt und endlich mal zur Ruhe kommt – was Sie sich in anderen Zeiten zwar wünscht, ihr aber doch nie gelingt. Viele Menschen wünschen sich eine Entschleunigung des Alltags – die haben wir jetzt. Dann können wir sie auch mitnehmen und genießen, so lange sie dauert. Viele Menschen wünschen sich, mehr Zeit mit den Kindern zu verbringen – auch das gibt es jetzt zwangsweise.
Es ist gesund, jetzt das anzunehmen, was die Situation uns bietet – statt sich wie so oft das zu wünschen, was man gerade nicht hat. Wir wissen, dass diese Phase vorübergehen wird und dass es wichtig ist, sie auch psychisch gesund zu überstehen. Wir werden früher oder später wieder in unserem gewohnten Alltag ankommen. Wir sollten uns diese schwierige Phase selbst so leicht wie möglich machen.
Arbeitsblätter
Hier finden Sie die Arbeitsblätter zum Artikel:
– Protokoll zum Erfüllen der Grundbedürfnisse
– Arbeitsblatt zum Vorbereiten konkreter Pläne
Sie können hier auch den Artikel als pdf herunterladen.
Über die Autoren
Sven Hanning und Fabian Chmielewski sind Diplom-Psychologen und Psychotherapeuten. Sie sind seit 2009 in einer Praxisgemeinschaft in Hattingen niedergelassen und behandeln hier Menschen, die an Depressionen, Angststörungen und anderen psychischen Beschwerden leiden. Als Supervisoren unterstützen sie die Ausbildung angehender Psychotherapeutinnen. Sie geben regelmäßig Seminare und Workshops auf Kongressen und an Aus- und Fortbildungsinstituten. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf dem Thema Selbstwert, zu dem die beiden Therapeuten vor Kurzem einen Ratgeber veröffentlicht haben: Das Buch „Ganz viel Wert – Selbstwert aktiv aufbauen und festigen“ ist im Beltz Verlag erschienen.
Unser Artikel ist in einer Therapeuten-Version bei psylife.de erschienen.
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